Im Gedanken an meine Kindheit reihen sich Episoden wie kleine
Filme aneinander. Oft weiß ich nicht mehr genau, wie alt ich in einer
bestimmten Szene dieses „Films“ war. Eine sehr frühe Sequenz versetzt
mich wieder in die Küche meiner Kindheit. In der Mitte
der Küche stand ein grober Holztisch, auf dessen Oberfläche ich
jede Rille und jede Nut kannte, so wie ich heute die einzelnen Falten in
meinem Gesicht kenne. Ich vermute jedoch, daß der Zahn der Zeit an
meinem Gesicht erfolgreicher nagt.
Da stand nun dieser besagte Tisch. Auf der einen Seite flankiert
von einem Spülstein, dem Kohleherd und einer langen gekachelten Arbeitsfläche.
Auf der anderen Seite reihten sich das Büfett mit dem Alltagsgeschirr
und ein kleines Sofa mit kunstvoll gestickten Kissen aneinander. An der
Wand hing ein rauhes Holzbrett auf dem Zinnbuchstaben angebracht waren,
die uns die ersten Zeilen des „Vaterunser“ nachdrücklich einprägten.
Eine kunstvolle Uhr mit schweren Messinggewichten würdigte den Ablauf
jeder Stunde mit einem honorigen Glockenklang. Das Aufziehen der Wanduhr
war meinem Vater vorbehalten. Und wehe dem von uns Kindern, das es wagte,
die Messinggewichte zu berühren. Der Gekreuzigte blickte leidend auf
die um den Tisch sitzende Gesellschaft. Diese setzte sich zusammen aus
meinen Eltern, meinen vier Geschwistern, mir und der „Dode Marie“.
Als ich einmal meinem Enkel von der „Dode Marie“ erzählte, entrüstete
dieser sich über die ständige Erwähnung der Vergänglichkeit
dieser Tante. So wie ich damals meinen Enkel aufklärte, möchte
ich auch nicht versäumen, die Leser dieses Buches zu informieren.
Die „Dode“ war bei uns einfach nur die Patentante und zum Zeitpunkt dieser
Episode noch quicklebendig.
Zurück in unsere Küche! Alles war dazu angetan, Gemütlichkeit
auszustrahlen. Der Duft des Essens war allgegenwärtig. Die Kochkunst
meiner Mutter trug dazu bei, auch ein einfaches Mahl zu einem freudig erwarteten
Ereignis werden zu lassen. Wenn sich da nur nicht dieses „Ding“ mitten
über dem Tisch von der Decke herunter geschlängelt hätte!
Mit einer Reißzwecke war an der Decke des Zimmers ein spiralförmiger
gelber Papierstreifen befestigt. Er war mit Fliegenleim bestrichen und
sollte der sommerlichen Fliegenplage Einhalt gebieten. Dieser Aufgabe wurde
er nicht gerecht! Das Brummen der „Mucken“, so nannte man die Fliegen bei
uns, war allgegenwärtig. Sie setzten sich beim Essen auf meine Hand,
liefen auf ihr hin und her, kitzelten einen und waren weit lästiger
als ihre Größe es vermuten ließ. Wenn man sie dann endlich
mit einer unwirschen Handbewegung verscheucht hatte, setzte schon
die nächste zum Landeanflug an.
Über ihre Aufgabe als Krankheitsüberträger wußten
wir nichts. Auch Großaufnahmen einer essenden Fliege, die einen unappetitlichen
Brei auf die Nahrung erbricht, um diese zu zersetzen, waren uns unbekannt.
Für uns waren sie einfach nur unangenehme Zeitgenossen. Zumindest
einige Dutzend der „Mucken“ fanden den Weg von unserer Suppe oder unseren
Händen hin zum Fliegenpapier, wo sie dann, ihrer Freiheit beraubt,
unter abnehmendem Gebrumme und Gestrampel verendeten.
Da hing nun dieser Fliegenfänger, bestückt mit den vertrockneten
Fliegenmumien. Bei geöffnetem Fenster schwang er gemächlich hin
und her. Ich saß vor meinem Teller und konnte den Streifen nicht
aus den Augen lassen. Die panische Angst, daß sich, von mir unbemerkt,
eine der Mumien von der Klebefläche lösen, in meiner Suppe landen
und von mir verzehrt werden würde, war eine Qual. Nichts erfüllte
mich mit größerem Ekel als diese Vorstellung.
Heute würde ein Kind sofort seinem Unmut Ausdruck verleihen,
und verständnisvolle Eltern würden für prompte Abhilfe sorgen.
Unsere Eltern waren ihren Möglichkeiten entsprechend auch fürsorglich,
sicherlich liebten sie uns auch, aber auf eine mir unerklärliche Weise
war es für uns Kinder sicherer, nicht die Aufmerksamkeit unseres Vaters
auf uns zu lenken. Ich habe sein Bild heute noch genau vor mir. Ein großer
dunkelhaariger Mann, dessen Augen keinen Humor zeigten, aber dessen ganzes
Wesen Gerechtigkeit versprach. Ein Mann, der sich für uns hätte
vierteilen lassen, dem jedoch eine Auseinandersetzung mit Lappalien widerwärtig
war. Und was waren unsere kindlichen Probleme? Lappalien! Wie gerne hätte
ich mir ein differenzierteres Bild von meinem Vater gemacht. Sein früher
Tod verhinderte dies, und so muß ich mit den Eindrücken leben,
die ich mir bis zu meinem zehnten Lebensjahr machen konnte.
So litt ich im Stillen, die Augen nach oben gerichtet, auf den Moment
lauernd, in dem meine Ängste wahr werden würden. Es verging viel
Zeit, die ich nicht in Tagen, Wochen oder Monaten messen kann, bis meine
Mutter mich ansprach und fragte, warum ich denn ständig an die Decke
starren würde. In mir kämpfte sich die lange im Stillen verborgene
Abscheu nach oben, blieb als Kloß in meinem Halse stecken, und mit
weinerlicher Stimme schilderte ich mein Leiden.
Was dann passierte hat sich auf ewig in mein Gedächtnis eingebrannt.
Mein Vater sprang auf, wobei er den Stuhl nach hinten schob, was ein erschreckendes
Getöse zur Folge hatte. Starr vor Schreck wartete ich auf meinen kleinen
persönlichen Weltuntergang.
Er streifte die Hausschuhe ab, stieg auf den Stuhl, von diesem auf
den Tisch und bahnte sich auf wollenen Socken den Weg über Schüsseln
und Teller bis zur Tischmitte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen,
zog er sein Sackmesser aus der Hosentasche, löste damit die Reißzwecke,
nahm mit zwei spitzen Fingern das Objekt meiner Angst und versenkte es,
nachdem er den Abstieg elegant bewältigt hatte, im Kuttereimer. Begleitet
von anhaltender Stille setzte er sich wieder zu uns an den Tisch, brach
ein Stück Brot vom Laib, tunkte es in die Suppe, und kurz bevor das
Brot den Weg zwischen die mahlenden Zähne fand, war laut und deutlich
folgender Satz zu hören: „Wo das Kind recht hat, da hat´s recht!“