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Erwin S.
"Rückblicke"

Die Muggenfalle

Im Gedanken an meine Kindheit reihen sich Episoden wie kleine Filme aneinander. Oft weiß ich nicht mehr genau, wie alt ich in einer bestimmten Szene dieses „Films“ war. Eine sehr frühe Sequenz versetzt mich wieder in die Küche meiner Kindheit. In der Mitte der Küche stand ein grober Holztisch, auf dessen Oberfläche ich jede Rille und jede Nut kannte, so wie ich heute die einzelnen Falten in meinem Gesicht kenne. Ich vermute jedoch, daß der Zahn der Zeit an meinem Gesicht erfolgreicher nagt.

Da stand nun dieser besagte Tisch. Auf der einen Seite flankiert von einem Spülstein, dem Kohleherd und einer langen gekachelten Arbeitsfläche. Auf der anderen Seite reihten sich das Büfett mit dem Alltagsgeschirr und ein kleines Sofa mit kunstvoll gestickten Kissen aneinander. An der Wand hing ein rauhes Holzbrett auf dem Zinnbuchstaben angebracht waren, die uns die ersten Zeilen des „Vaterunser“ nachdrücklich einprägten. Eine kunstvolle Uhr mit schweren Messinggewichten würdigte den Ablauf jeder Stunde mit einem honorigen Glockenklang. Das Aufziehen der Wanduhr war meinem Vater vorbehalten. Und wehe dem von uns Kindern, das es wagte, die Messinggewichte zu berühren. Der Gekreuzigte blickte leidend auf die um den Tisch sitzende Gesellschaft. Diese setzte sich zusammen aus meinen Eltern, meinen vier Geschwistern, mir und der „Dode Marie“.

Als ich einmal meinem Enkel von der „Dode Marie“ erzählte, entrüstete dieser sich über die ständige Erwähnung der Vergänglichkeit dieser Tante. So wie ich damals meinen Enkel aufklärte,  möchte ich auch nicht versäumen, die Leser dieses Buches zu informieren. Die „Dode“ war bei uns einfach nur die Patentante und zum Zeitpunkt dieser Episode noch quicklebendig.

Zurück in unsere Küche! Alles war dazu angetan, Gemütlichkeit auszustrahlen. Der Duft des Essens war allgegenwärtig. Die Kochkunst meiner Mutter trug dazu bei, auch ein einfaches Mahl zu einem freudig erwarteten Ereignis werden zu lassen. Wenn sich da nur nicht dieses „Ding“ mitten über dem Tisch von der Decke herunter geschlängelt hätte!

Mit einer Reißzwecke war an der Decke des Zimmers ein spiralförmiger gelber Papierstreifen befestigt. Er war mit Fliegenleim bestrichen und sollte der sommerlichen Fliegenplage Einhalt gebieten. Dieser Aufgabe wurde er nicht gerecht! Das Brummen der „Mucken“, so nannte man die Fliegen bei uns, war allgegenwärtig. Sie setzten sich beim Essen auf meine Hand, liefen auf ihr hin und her, kitzelten einen und waren weit lästiger als ihre Größe es vermuten ließ. Wenn man sie dann endlich mit einer unwirschen Handbewegung  verscheucht hatte, setzte schon die nächste zum Landeanflug an. 
Über ihre Aufgabe als Krankheitsüberträger wußten wir nichts. Auch Großaufnahmen einer essenden Fliege, die einen unappetitlichen Brei auf die Nahrung erbricht, um diese zu zersetzen, waren uns unbekannt. Für uns waren sie einfach nur unangenehme Zeitgenossen. Zumindest einige Dutzend der „Mucken“ fanden den Weg von unserer Suppe oder unseren Händen hin zum Fliegenpapier, wo sie dann, ihrer Freiheit beraubt, unter abnehmendem Gebrumme und Gestrampel verendeten. 

Da hing nun dieser Fliegenfänger, bestückt mit den vertrockneten Fliegenmumien. Bei geöffnetem Fenster schwang er gemächlich hin und her. Ich saß vor meinem Teller und konnte den Streifen nicht aus den Augen lassen. Die panische Angst, daß sich, von mir unbemerkt, eine der Mumien von der Klebefläche lösen, in meiner Suppe landen und von mir verzehrt werden würde, war eine Qual. Nichts erfüllte mich mit größerem Ekel als diese Vorstellung.

Heute würde ein Kind sofort seinem Unmut Ausdruck verleihen, und verständnisvolle Eltern würden für prompte Abhilfe sorgen. Unsere Eltern waren ihren Möglichkeiten entsprechend auch fürsorglich, sicherlich liebten sie uns auch, aber auf eine mir unerklärliche Weise war es für uns Kinder sicherer, nicht die Aufmerksamkeit unseres Vaters auf uns zu lenken. Ich habe sein Bild heute noch genau vor mir. Ein großer dunkelhaariger Mann, dessen Augen keinen Humor zeigten, aber dessen ganzes Wesen Gerechtigkeit versprach. Ein Mann, der sich für uns hätte vierteilen lassen, dem jedoch eine Auseinandersetzung mit Lappalien widerwärtig war. Und was waren unsere kindlichen Probleme? Lappalien! Wie gerne hätte ich mir ein differenzierteres Bild von meinem Vater gemacht. Sein früher Tod verhinderte dies, und so muß ich mit den Eindrücken leben, die ich mir bis zu meinem zehnten Lebensjahr machen konnte.

So litt ich im Stillen, die Augen nach oben gerichtet, auf den Moment lauernd, in dem meine Ängste wahr werden würden. Es verging viel Zeit, die ich nicht in Tagen, Wochen oder Monaten messen kann, bis meine Mutter mich ansprach und fragte, warum ich denn ständig an die Decke starren würde. In mir kämpfte sich die lange im Stillen verborgene Abscheu nach oben, blieb als Kloß in meinem Halse stecken, und mit weinerlicher Stimme schilderte ich mein Leiden.

Was dann passierte hat sich auf ewig in mein Gedächtnis eingebrannt. Mein Vater sprang auf, wobei er den Stuhl nach hinten schob, was ein erschreckendes Getöse zur Folge hatte. Starr vor Schreck wartete ich auf meinen kleinen persönlichen Weltuntergang. 

Er streifte die Hausschuhe ab, stieg auf den Stuhl, von diesem auf den Tisch und bahnte sich auf wollenen Socken den Weg über Schüsseln und Teller bis zur Tischmitte. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, zog er sein Sackmesser aus der Hosentasche, löste damit die Reißzwecke, nahm mit zwei spitzen Fingern das Objekt meiner Angst und versenkte es, nachdem er den Abstieg elegant bewältigt hatte, im Kuttereimer. Begleitet von anhaltender Stille setzte er sich wieder zu uns an den Tisch, brach ein Stück Brot vom Laib, tunkte es in die Suppe, und kurz bevor das Brot den Weg zwischen die mahlenden Zähne fand, war laut und deutlich folgender Satz zu hören: „Wo das Kind recht hat, da hat´s recht!“

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