Meine große Liebe
Mit knapp 13 Jahren, im Jahre 1910 war meine Schulzeit zu Ende. Sieben
Jahre durfte ich zur Schule gehen, man war der Ansicht, das reicht
für ein Mädchen. Nach meinem letzten Schultag, den Schulranzen
hatte ich noch auf meinem Rücken, mußte ich mich in der Stadt
bei der Familie des Kanzleirates Kurz als Haushaltshilfe vorstellen.
Tatsächlich stellten sie mich ein.
Ich hatte keine Ahnung von einem Stadthaushalt, alles war ganz anders
geregelt als bei uns auf dem Lande. Häufig bekam ich Tadel und war
sehr unglücklich. Zum Bügeln der Wäsche wurde ich in die
Werkstatt eines Hutmachers geschickt, der einen Bügelofen besaß.
Die Bügeleisen wurden darin erhitzt, bis sie so heiß waren,
daß man sie kaum mehr anfassen konnte, trotz der vielen Tücher,
die man um die Griffe wickelte. Wenn sie beim Bügeln abkühlten,
nahm man das nächste Eisen aus dem Ofen. Ich kannte diese Vorrichtung
nicht und stellte mich wohl etwas dumm an, jedenfalls sagte die Frau Kanzleirat
zu mir: „Kann man dem Esel das Tanzen beibringen, wird man wohl auch Dir
beibringen können, Taschentücher ordentlich zu bügeln.“
Meine Herrschaft schimpfte viel mit mir, aber ich wurde auch gelobt.
Die Herrschaft hatte zwei Kinder, denen ich beim Lernen für die Schule
half. Und da ich das recht gut konnte, sagte der Herr Kanzleirat eines
Tages anerkennend zu mir: „ Therese, das hätte ich nicht geglaubt,
Du als Landmädchen stellst ja die Stadtschüler in den Schatten
mit Deinem Können.“ Dieses Lob machte mich zugleich sehr stolz, aber
auch ein wenig traurig, denn ich merkte, wie gerne ich weiter auf die Schule
gegangen wäre und mehr gelernt hätte, als einen Bügelofen
zu bedienen.
Meine ganze Jugend verbrachte ich in fremden Haushalten und arbeitete
hart. Ich war so eingespannt in die täglichen Pflichten, daß
ich nie in die Verlegenheit kam, junge Männer kennen zu lernen, oder
auszugehen. Ich war in Bezug auf das andere Geschlecht völlig unerfahren,
aber auch von der Entwicklung des eigenen Geschlechts hatte ich keine Ahnung.
Vielleicht war diese Unkenntnis auch ein Grund dafür, daß
ich erst so spät, mit immerhin schon siebzehn Jahren, meine erste
Regelblutung bekam. Ich war zu dieser Zeit bei der Familie eines
Kaufmanns im Dienst. Mit dieser für mich völlig unbekannten Situation fühlte
ich mich schrecklich
allein gelassen und war völlig verängstigt. Ich dachte, die Blutung
sei eine Strafe Gottes und ich müsse sterben. Das vierzehnjährige
Kindermädchen der Familie klärte mich auf, und ich war so entsetzt
von diesen unkeuschen Reden, daß ich mich daraufhin von ihr fernhielt.
Kurz nach Ausbruch des ersten Weltkrieges begann ich meinen Dienst
in der Familie eines Generals. Es war eine harte Schule, erst hier begriff
ich, was es wirklich heißt, zu dienen und zu gehorchen. Alles mußte
perfekt und reibungslos funktionieren. Die Pflichten der vielen Dienstboten
waren streng aufgeteilt. Neben mir arbeitete ein Hausbursche mit Namen
Franz im Haushalt, zu dessen Aufgaben es gehörte, die Kleider und
Schuhe des Herrn General in Ordnung zu halten, den Tisch zu decken und
zu servieren. Ich mußte in der Küche alles vorbereiten und anrichten.
Eines Tages klingelte der Herr General erbost mit der Tischglocke,
und sofort eilte der Hausbursche herbei. Der General sah ihn streng an
und sagte: „Es fehlt etwas auf dem Tisch“. Da der arme Franz nicht gleich
erkannte, was es sein könne, befahl ihm der Hausherr, die Leiter von
draußen zu holen. Völlig verängstigt kam Franz zu mir in
die Küche und sagte: „Therese, hilf mir, was kann denn nur fehlen,
daß der Herr General so böse mit mir ist!“ Ich wußte keinen
Rat, und so holten wir die Leiter. Er ging mit ihr ins Speisezimmer, mußte
sie aufstellen, hinaufklettern und von oben so lange auf den Tisch schauen,
bis er wußte, was der Herr General vermißte. Es war das Salzfäßchen.
Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, frisches Bier aus der Wirtschaft
für die Herrschaften zu holen. Fast jeden Abend ging ich mit einem
Bierkrug hinüber zum Gasthof „Ochsen“. Die Wirtin, Frau Leible kannte
mich schon und mochte mich gerne. Ich klopfte einfach ans Küchenfenster,
sie nahm mir den Krug ab, füllte ihn drinnen mit frischem Bier auf
und gab ihn mir wieder heraus.
Als der Krieg 1919 endlich vorbei war, füllte sich die Wirtschaft
allabendlich mit jungen Soldaten, die in der Nähe in einer Kaserne
stationiert waren. Ich konnte das lustige Treiben von außen hören.
Eines Abends sagte Frau Leible zu mir: „Therese, warum kommst Du nicht
einfach mal rein, bleibst ein bißchen hier und trinkst einen Schluck,
es wird Dir bestimmt gefallen.“ Es gehörte sich aber nicht für
eine junge Frau, alleine in die Wirtschaft zu gehen und ich schüttelte
den Kopf. In diesem Moment kam ein junger Feldwebel vorbei. Frau Leible
sprach ihn sofort an: „Ach Herr Konrad, finden Sie nicht auch, daß
das Fräulein Therese an unserer Unterhaltung teilhaben sollte?“ Mir
war das sehr peinlich, aber der Feldwebel lächelte und lud mich ganz
offiziell für den nächsten Abend ein, so wie es sich gehörte:
„Fräulein Therese, möchten Sie mir nicht die Freude machen und
morgen Abend ein Gläschen mit uns trinken?“
Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, vor lauter Aufregung.
Es kam mir schrecklich verrucht vor, daß ich am nächsten Abend
in diese Wirtschaft gehen sollte, aber ich war auch sehr neugierig. Mit
meinen 22 Jahren war es eigentlich auch schon höchste Zeit, einen
Mann kennen zu lernen. Frau Leible meinte es wirklich nur gut mit mir, und
der Feldwebel war ausgesprochen höflich gewesen. Ich konnte der Versuchung
einfach nicht wiederstehen. So ging ich am nächsten Abend nach Feierabend
in die Wirtschaft, setzte mich zu meinem feschen Feldwebel an den Tisch
und ließ mich zu einem Bier einladen.
Es war herrlich, so viel Tumult, so viele Menschen, solch eine lustige
Unterhaltung. Gegen 22.00 Uhr wurde die Wirtschaft leerer, denn die einfachen
Soldaten mußten in die Kasernen zurück. Nur die Feldwebel und
die Unteroffiziere durften länger bleiben. Wir rückten alle zusammen
und saßen nun an einem großen Tisch. Um 23.00 Uhr war auch
für die Unteroffiziere Feierabend. Feldwebel Wilhelm Konrad aber
bot einem der Unteroffiziere, der gerne noch geblieben wäre, einen
Knopf von seiner Uniform an, damit er auch später noch problemlos
durch die Wache vor der Kaserne kommen konnte. Auf den Schultern der Uniformen
konnte man anhand der Anzahl der Knöpfe erkennen, welchen Dienstgrad
der Betreffende besaß.
Wilhelm Konrad wollte seinem Kameraden von der einen Schulter
einen Knopf leihen. Es war eine sehr höfliche und nette Geste von
ihm, und er beeindruckte mich damit sehr. Jetzt stellte nur noch die Frage,
wer den Knopf von seiner Uniform abtrennen und dem Unteroffizier auf das
Schulterstück nähen würde. Ich war nicht schnell genug,
eine andere Frau meldete sich und bekam prompt vom Feldwebel Konrad als Dankeschön einen Kuß.
Natürlich war ich ein wenig eifersüchtig und auch beleidigt,
denn der junge Mann hatte mir so gut gefallen. So dachte ich nur traurig
bei mir: „Männer sind doch alle gleich, da hatte meine Mutter schon
recht gehabt!“ Und der schöne Abend endete mit Liebeskummer.
Frau Leible bemerkte, daß ich unglücklich verliebt war
und arrangierte einige Tage später, daß Feldwebel Wilhelm
Konrad heraus kam, als ich für die Herrschaft das Bier holte.
Er fragte mich charmant lächelnd: „Fräulein Therese, möchten
Sie nicht vielleicht noch einmal mit mir ausgehen?“ Ich war so glücklich
und ließ mir schnell eine Lüge einfallen, damit ja nichts dazwischen
kommen konnte. Kurzentschlossen sagte ich: „Ach, ich muß heute Abend
um neun noch Post zum Hauptschalter am Bahnhof bringen, vielleicht möchten
Sie mich ja begleiten?“
Flugs ging ich nach Hause und steckte ein leeres Blatt in ein Briefcouvert.
Ich schrieb irgendeine Adresse auf das Couvert und pünktlich um neun
Uhr stand Wilhelm Konrad vor unserem Haus, und wir spazierten zum
Briefkasten. Ich konnte gar nichts sagen, so aufgeregt war ich und so verliebt.
Ein Glück hatte ich den falschen Brief, an dem ich mich festhalten
konnte. Auf dem Rückweg aber nahm er meine Hand in seine, und ich
konnte es kaum fassen. Es war so romantisch, dieser warme Frühsommerabend,
der Spaziergang durch die Stadt und Wilhelm und ich schienen die einzigen
Menschen auf der Welt zu sein.
Ich wußte, es war der Beginn eines ganz neuen Lebens.